
„70 Jahre lang habe ich nicht darüber nachgedacht, wer mir damals das Singen beigebracht hat, aber jetzt, da Sie mich fragen, fällt es mir wieder ein. Es war Herr Seifert, unser Grundschullehrer. Mit seinem vornehmen französischen Akzent nannten wir ihn nur Graf Seifé. Für uns Kinder war er der Inbegriff der Musik“ – so beginnt das Interview mit Gerti, das Elena Lange, damals 16 Jahre alt, mit der Seniorin führt. Weiter heißt es: „Mehr als einmal hielt Gerti R. während des Erzählens inne, um sich nachdenklich zu fragen, wen ihre Geschichte denn schon interessieren können, das seien doch bloß ein paar Erinnerungen einer unbekannten Seniorin.“
Und Elena gibt selbst die Antwort, indem sie darauf hinweist, dass erst jene Erinnerungen uns sehr persönliche Einblicke in längst vergangene Zeiten und geschichtlichen Ereignissen und fernen Jahreszahlen ein Gesicht geben würden.
Das Interview ist eines von insgesamt 32, die Hamburger Schülerinnen und Schüler mit älteren Menschen während der Corona Pandemie, meist online, geführt haben. Seit 2016 gibt es die Hamburger Initiative KULTURISTENHOCH2. Hier besuchen die Älteren gemeinsam mit jungen Menschen aus ihrem Quartier zusammen Kunst- und Kulturveranstaltungen. Als während Corona auch kulturell alle Räder stillstanden, ermöglichten die Interviews weiterhin den Generationen-Austausch und die kulturelle Begegnung. Und genau wie Corona das kulturelle Leben lahmlegte, legte es auch dem Familienherz e.V. Steine in den Weg bei der Übergabe der Auszeichnung mit dem Familienherz.
Fast zwei Jahre nämlich ist es her, dass KULTURISTENHOCH2 mit dem Preis des Familienherz e.V. ausgezeichnet wurde. Die Preisübergabe gestaltete sich äußerst schwierig. Nicht, dass wir es nicht immer wieder versucht hätten und mehrere Termine vereinbarten – die Pandemie mit ihren diversen Einschränkungen hat uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Und dann im Dezember 2022 war es fast so weit, bis ein totaler Heizungsausfall ausgerechnet an den wenigen frostigen Tagen dieses Winters das geplante Treffen platzen ließ.
Mitte Januar 2023 hatte mich Christine Worch, Gründerin und Ideengeberin von KULTURISTENHOCH2, dann in ihren Büroräumen zur Preisübergabe eingeladen. Endlich konnte ich ihr die Urkunde, Plakate und einen Blumenstrauß persönlich übergeben. Inzwischen liegt das wunderbare Ergebnis des ausgezeichneten Projektes KULTURISTENHOCH2biografisch in Buchform vor. Und so herausfordernd Corona auch war, ohne die Pandemie gäbe es dieses Buch nicht. Als 2020 das kulturelle Leben nicht stattfand und die Schülerinnen und von der Schule fernbleiben mussten, entwickelte sich diese neue Idee. Im Mittelpunkt der Interviews, die Lernende der Oberstufe mit Seniorinnen und Senioren führten, stand die Bedeutung von Kunst und Kultur für das eigene Sein. Die mehr als 30 eindrucksvollen Geschichten und Porträtfotos zeigen, wie Kultur das Leben bereichern kann. Viele der Porträtierten leben von schmalen Renten, aber in dem Buch wird der Schatz der Erinnerungen lebendig. Christine Worch berichtete bei der Preisübergabe, dass das Buch in den nächsten Tagen auf „Lesereise“ geht, es werden Lesungen in verschiedenen Stadtteilen in Hamburg stattfinden, eine davon im Literaturhaus Hamburg. Ich bin gespannt, wie das Buch und die Idee dahinter rezipiert wird.
von Catherine Arriagada (Mitglied im Beirat des Familienherz e.V.)